„Können Sie bitte schnell einen kurzen Satz ins Deutsche übersetzen? Nichts Fachliches, ganz einfach, wenn ich Zeit hätte, würde ich es selbst machen. Ich bräuchte das ganz dringend noch heute.»
So ähnlich beginnen häufig Anfragen an Übersetzer. Beim genaueren Hinsehen entpuppt sich dann „der kurze Satz» als ein auf Wortspielen basierender Werbetext für einen Passivhaushersteller, der weder schnell noch einfach zu übersetzen ist.
Professionelles Übersetzen geschieht für fremden Bedarf, das heißt im Auftrag. Die Festlegung der Bedingungen, unter denen die Übersetzung erfolgt, und der Erwartungen des Auftraggebers an den Zieltext sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass die Übersetzung zielgruppengerecht und funktionsadäquat gestaltet werden kann.
In diesem Kapitel wollen wir die übersetzungsvorbereitende Textanalyse behandeln, d.h. die Analyse des Ausgangstextes nach funktionalen, semantischen, pragmatischen und stilistischen Aspekten.
Die erste Stufe der Textanalyse
Der Übersetzungsauftrag stellt eine „äußere» Zielvorgabe dar, die den Übersetzer beeinflusst, wenn er den Ausgangstext zur Gewinnung von darin enthaltenen „inneren» Vorgaben analysiert. Der Übersetzer liest also den Text — und zwar den gesamten Text in voller Länge, manchmal auch nur kursorisch, unter Umständen aber auch mehrmals. Im Ergebnis dieser ersten Kenntnisnahme kann er im Großen und Ganzen für sich die folgenden Fragen beantworten:
1. Verstehe ich den Text?
2. Wie wirkt der Text in seiner Aussage und Gestaltung auf die ausgangssprachigen Adressaten, darunter auf mich?
3. Für wen wurde der Text geschrieben?
4. Was ist seine kommunikative Funktion?
5. Wie ist der Text gegliedert?
6. Würden die anvisierten zielsprachigen Leser den Text ohne Schwierigkeiten verstehen, wenn er nicht in einer fremden Sprache kodiert wäre?
7. Ist der Text als Grundlage für eine Übersetzung geeignet, die dem Auftrag entspricht?
8. Oder sind inhaltliche und/oder formale Veränderungen notwendig, um einen Zieltext zu schaffen, der dem im Übersetzungsauftrag genannten Zweck entspricht?
9. Kann ich angesichts der Auftragsspezifikation, des Termins, der Recherchiermöglichkeiten usw. die Übersetzung übernehmen? Wenn ja: Unter welchen Bedingungen? Wenn nein: Warum nicht?
Mit der letzten Frage kehrt der Übersetzer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Damit ist gemeint, dass der Übersetzer abwägt, ob das ihm in der konkreten Situation erreichbare Verständnis des Textes ausreicht, um den Übersetzungsauftrag zu erfüllen. Diese Frage betrifft sowohl die Verstehensvoraussetzungen des Übersetzers als auch die Beschaffenheit des Textes und die absehbaren Erwartungen der Leser des Zieltextes und setzt all dies in Beziehung zu dem erforderlichen Rechercheaufwand. Der wiederum muss in Relation zu der verfügbaren Zeit und anderen Rahmenbedingungen des Übersetzungsauftrags gesehen werden.
Diese Selbstbefragung ermöglicht dem Übersetzer eine ganzheitliche Betrachtung seiner Aufgabe. Zugleich macht sie dem Übersetzer seine übersetzerische Verantwortung bewusst: Der Übersetzer wird in der Lage sein, den zu übersetzenden Text für sich richtig einzuordnen und die komplexeren Zusammenhänge zu sehen, in denen er steht.
Die erste Stufe der Textanalyse kann zu verschiedenen Ergebnissen führen:
1) In einem Fall wird der Übersetzer vielleicht den Übersetzungsauftrag ablehnen, weil er seine individuellen Grenzen erkannt hat und sie in der verfügbaren Zeit nicht erweitern kann.
Wenn der Übersetzer einsieht, dass er den Text auf Grund fehlender Fach- und Sachkenntnisse nicht ausreichend versteht und dieses Defizit wegen fehlender oder unzureichender Hilfsmittel oder allzu großen Termindrucks nicht rechtzeitig beheben kann, ist es besser, den Auftrag abzulehnen. In diesem Fall ist dies kein Zeichen von Inkompetenz, sondern eben von übersetzerischer Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein.
2) Im anderen Fall aber weiß der Übersetzer jetzt, dass er den Auftrag ausführen kann und hat auch eine Vorstellung davon, wie er ans Werk gehen muss.
Damit hat die erste Stufe der Textanalyse ihren Hauptzweck erfüllt:
Der Übersetzer kennt nun die Situation, in der er handeln wird; er kennt die Mitteilungs- und Wirkungsintentionen, die er berücksichtigen muss; und er hat eine Vorstellung von seinem übersetzerischen Vorgehen. Dadurch hat er die Sicherheit, einen einheitlichen und kohärenten Zieltext schaffen zu können, der dem Auftrag gerecht wird.
Die zweite Stufe der Textanalyse
In der zweiten Stufe der Textanalyse geht es um die Gewinnung der angemessenen Mikrostrategien, d.h. der Verfahren zur Lösung von einzelnen Übersetzungsproblemen.
Das Analyseverfahren, mit dem diese Mikrostrategien ermittelt werden, ist übereinzelsprachlich gültig und unabhängig von der Übersetzungsrichtung.
Das folgende zweiteilige Schema hat Nord (1995) ausgearbeitet, um einerseits die wichtigsten textexternen Faktoren zusammenzufassen, die die situative Einbettung des Textes charakterisieren, und einerseits die textinternen Faktoren, d.h. die Beschaffenheit des Textes selbst zu ermitteln.
Textexterne Faktoren
Textexterne Faktoren umfassen folgende Fragen:
WER übermittelt
WOZU WEM ÜBER WELCHES MEDIUM WO WANN WARUM einen Text? |
= textexterne Faktoren |
- Die Antwort auf WER? gibt Aufschluss über den Verfasser des Textes bzw. den Auftraggeber der Übersetzung.
- WOZU? fragt nach der Intention des Verfassers bzw. des Auftraggebers. Welche kommunikative Absicht wird mit einem Text verfolgt? Zum Beispiel mit einem Autoprospekt verfolgt der Textautor die Intention, Kunden zum Kauf anzuregen.
- Der Adressat des Textes wird durch WEM? erfragt. Für wen ein Text gedacht ist, entscheidet maßgeblich darüber, wie ein Ausgangstext in der Übersetzung behandelt wird. Es macht einen großen Unterschied, ob die Adressaten Erwachsene oder Kinder sind, ob sie Fachleute in einem bestimmten Gebiet oder Laien sind. Übersetzer müssen sowohl die kulturspezifischen Erwartungen als auch die Wissensvoraussetzungen der Adressaten des Zieltextes berücksichtigen.
- Die Frage ÜBER WELCHES MEDIUM der Zieltext vermittelt werden soll? hat ebenfalls Einfluss auf die übersetzungsstrategischen Entscheidungen. Der Begriff „Medium» bezieht sich dabei einerseits auf die Kommunikationsart (mündlich/schriftlich, akustisch/visuell), andererseits auch auf das Trägermedium (Buch, Prospekt, Brief usw.). Das Medium beeinflusst sowohl die Textgestaltung (die Übersetzung eines Textes für einen mündlichen Vortrag sieht anders aus als die Übersetzung eines Redemanuskripts für einen schriftlichen Artikel in einer Fachzeitschrift) als auch die Textlänge (eine mehrsprachige Broschüre, in der für jede Sprache genau eine Seite á 25 Zeilen vorgesehen ist, darf in der Übersetzung diese nicht übersteigen).
- WO und WANN ein Text rezipiert wird, hat ebenfalls Einfluss auf Form und Inhalt eines Textes. Dies betrifft vor allem die deiktischen Elemente, durch die das Textualitätsmerkmal der Situationalität realisiert wird. Zeigewörter wie „hier», „dort», „dieser», „gestern», „heute» usw. verankern den Text in einer bestimmten Kommunikationssituation. Diese ändert sich in vielen Fällen in der Übersetzung, da die Zieltexte für einen anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt als die Ausgangstexte verfasst werden.
- Der Anlass für die Erstellung bzw. Übermittlung des Textes wird mit WARUM? erfragt.
Die Beantwortung der oben genannten Fragen gibt eine recht klare Vorstellung von der Funktion des Textes und vom Übersetzungsauftrag.
Die Analyse der textexternen Faktoren wird zum einen die Makrostrategie des Übersetzers in ihren Hauptzügen bestätigen und in Einzelfragen präzisieren; zum anderen erlaubt sie schon erste Schlussfolgerungen für die anzuwendenden Mikrostrategien.
Textinterne Faktoren
Die textinternen Faktoren können wir mit folgenden Fragen bestimmen:
WORÜBER sagt der Text
WAS (WAS NICHT) IN WELCHER REIHENFOLGE MIT WELCHEN NONVERBALEN MITTELN MIT WAS FÜR WÖRTERN IN WAS FÜR SÄTZEN IN WELCHEM TON MIT WELCHER WIRKUNG? |
= textinterne Faktoren |
- Mit WORÜBER? erfragen wir das Thema des Textes.
- WAS? bezieht sich auf den Inhalt des Textes.
- Mit der Frage WAS NICHT? wollen wir die nicht verbalisierten, nur impliziert mitgemeinten Informationen erfassen. Zum Beispiel in einem estnischsprachigen Text über Saaremaa muss man den Lesern nicht erklären, dass Saaremaa die größte Insel Estlands ist, denn die Leser wissen das schon selbst. Bei der Übersetzung ins Deutsche müssen diese Hintergrundinformationen möglicherweise ergänzt werden.
- Die frage IN WELCHER REIHENFOLGE? bezieht sich auf die Gliederung der Informationen, also auf die Makrostruktur des gesamten Textes und die Mikrostrukturen der Textsegmente.
- MIT WELCHEN NONVERBALEN MITTELN? erfragt, welche nichtsprachlichen Mittel, z.B. Layout, typographische Gestaltung, Farben, Illustrationen etc. — zur Gliederung, Akzentuierung usw. eingesetzt werden.
- MIT WAS FÜR WÖRTERN? bezieht sich auf die lexikalischen Charakteristika des Textes. Dazu gehören bei Fachtexten auch Herkunft und Spezialisierungsgrad der Fachlexik sowie deren Verhältnis zur allgemeinsprachlichen Lexik.
- IN WAS FÜR SÄTZEN? fragt nach den für den Text charakteristischen syntaktischen Mitteln (Art der Sätze, Verhältnis Haupt- und Nebensätze, Art der Nebensätze etc.) sowie nach der Einbeziehung von Personen (Verfasser und Adressat des Textes) in die Textgestaltung.
- Die Frage IN WELCHEM TON? bezieht sich auf die suprasegmentalen Merkmale des Textes (z.B. Akzent, Intonation und Rhythmus). Ton kann auch durch Akzentuierung im Druck, Absatzgestaltung oder Interpunktion beeinflusst werden.
Warum ist Textanalyse wichtig?
Nach der Analyse der textexternen und textinternen Faktoren des zu übersetzenden Textes sollte der Übersetzer es leichter haben, einen dem Übersetzungsauftrag entsprechenden Zieltext zu schaffen. Denn im Verlauf der Textanalyse gewinnt man nicht nur einen Überblick über den Ausgangstext, sondern auch eine relativ klare Vorstellung von dem Zieltext.
Die Analyse öffnet dem Übersetzer die Augen für die vielen Aspekte, die sich auf das Übersetzen auswirken. Sie ermöglicht es ihm zu entscheiden, welche Faktoren des Ausgangstextes überhaupt relevant sind und was im Zieltext eventuell wegfallen kann oder welche Informationen eventuell ergänzt werden müssen.
Insbesondere wichtig ist eine solche Textanalyse für angehende Übersetzer, die sich noch nicht auf ihre Intuition und ihre Assoziationskompetenz verlassen können. Durch die Ergebnisse der Textanalyse wird der Übersetzer in der Lage sein, sein übersetzerisches Handeln zu begründen, d.h. wohlbegründete übersetzerische Entscheidungen zu treffen.
Literatur
Kautz, Ulrich (2000): Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens. München: iudicium.
Nord, Christiane (1995): Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlagen, Methode und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse. Heidelberg: Groos.